Zwischen Himmel und Erde: Die Mistel
Auf hohem Stamm
stand gewachsen
der Zweig der Mistel
zart und schön
Die Mistel ist eine ganz besondere Pflanze. Der immergrüne Schmarotzer gilt als Allheilmittel und Glücksbringer. Ein Kuss unter dem Zweig soll wahre Wunder wirken, weshalb Zweige der Mistel zur Weihnachtszeit zur beliebten Dekoration gehören. Der im hohen Eichenbaum Misteln schneidende Druide ist zum Sinnbild dessen geworden, was wir uns von diesen Baum-Wissenden der Kelten machen – nicht nur Dank Miraculix, der daraus den Zaubertrank für Asterix und seine unbeugsamen Gallier braut.
Auch in den germanisch/nordischen Legenden kommt der Mistel eine wichtige, auf den ersten Blick totbringende Rolle zu. Der blinde Hödr schießt mit dem Mistelpfeil auf den Sonnenheld Baldur und tötet ihn. Wie sich beide Bilder – Allheilmittel und Tod – vereinen, soll in dem nachfolgenden Bericht über den Baldur-Mythos erläutert werden.
Die europäische Mistel (Viscum album) kann ihre Wurzeln nicht in das Erdreich senken. Der Halb-Parasit entzieht seinem Wirtsbaum die nötigen Mineralien und das Wasser. Die Äste ähneln einem kugelförmigen Busch, der häufig in Pappeln, alten Obstbäumen und anderen Laubgehölzen zu sehen ist. Am wertvollsten werden die Misteln in den Eichen angesehen. Die perlenhafte Frucht erscheint anstatt im Sommer erst im Winter. Auch das macht die Mistel zu etwas Besonderem. Vögel essen diese Früchte und tragen sie mit ihrem Kot zu anderen Bäumen.
Eine Klientin von mir hatte mir von einem Traum berichtet, in dem ihr eine Frau erschien: „Sie hatte langes grünes Haar und trug ein Blätterblumen-Kleid. Um ihren Kopf hatte sie ein Stirnband aus Ranken und Perlen“, schrieb sie mir. Als ich ihr ein Foto von der Mistel und der perlengleichen Frucht zeigte, stimmte dies genau mit dem Traumbild überein.
„Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, damit die sie nicht zertreten mit ihren Füßen und sich umwenden und euch zerreißen.“
Die Redensart stammt aus der Bibel, und zwar aus dem Evangelium nach Matthäus in der Übersetzung von Martin Luther. Ähnliche Redensarten tauchen jedoch schon in einer bayerischen Sammlung aus dem 12. Jahrhundert auf.
„Perlen vor die Säue werfen“, sagt man umgangssprachlich zu jemandem, der ein Geschenk oder eine Gelegenheit nicht zu schätzen weiß. Außerdem hatte das Schwein im biblischen Raum als unrein gegolten. In der germanischen Mythologie ist das Schwein dagegen ein Glückssymbol. „Swin“ ist eine der Namen der Göttin Freya. Sie ist die Göttin der Fruchtbarkeit, die germanische Aphrodite, die mit ihrer Schönheit jeden zu betören weiß. Nach der Christianisierung wurde die Göttin dann zur buckligen Hexe degradiert - mit der schwarzen Katze auf der Schulter.
Freya trägt einen berühmten Schmuck, der Brisingamen heißt und der mit der Regenbogenbrücke Bifröst in Verbindung gebracht wurde, dem Verbindungsweg von Himmel und Erde. An Freyjas Hals wurde Brisingamen zu einem Symbol der Früchte des Himmels und der Erde. Die Frucht der Mistel liegt irgendwo dazwischen. Für den Anthroposophen Rudolf Steiner (1861-1925) lag die Bedeutung der Mistel darin, dass sie aus einer Zeit der Erdentwicklung stamme, als „Erde und Mond noch miteinander verbunden“ waren, denn der Mond ging dieser Theorie zufolge als „Aussonderung“ aus der Erde hervor. Deshalb, so Steiner in seinen Vorträgen von 1906 und 1916, besitze die Mistel wie die Tiere einen Astralleib und verhalte sich nicht wie andere Pflanzen, die ihre Wurzeln in Richtung auf den Erdmittelpunkt senken.
Schon der römische Natur-Historiker Plinius der Ältere (23-79) schrieb in seiner Naturalis:
Bei dieser Gelegenheit darf man auch nicht die Bewunderung der gallischen Provinzen [für die Mistel] übergehen. Denn nichts halten die Druiden, so nennen sie ihre Magier, für heiliger als die Mistel und den Baum, auf dem sie wächst, sofern es nur eine Stein-Eiche ist. Sie wählen an sich schon die Eichen-Haine aus und verrichten kein Opfer ohne das Laub dieses Baumes ... Ja, sie glauben, Alles, was an den Eichen wächst, sei vom Himmel gesandt, und sehen dies als einen Beweis an, dass die Gottheit selbst sich diesen Baum erwählt habe. Man findet aber die Mistel in Gallien sehr selten; und hat man sie gefunden, so wird sie mit grosser Ehrfurcht abgenommen, vor allem am sechsten Tag des Mondes, der bei ihnen den Anfang der Monate und Jahre und nach 30 Jahren einen neuen Zeitabschnitt bildet, ein Tag, an dem der Mond schon genügend Kräfte hat und noch nicht halbvoll ist. Sie nennen die Mistel in ihrer Sprache die alles Heilende. Sie bereiten nach ihrer Sitte das Opfer und das Mahl unter dem Baum und führen zwei weiße Stiere herbei, deren Hörner da zum ersten Mal umwunden werden. Der Priester, bekleidet mit einem weißen Gewand, besteigt den Baum und schneidet die Mistel mit einer goldenen Hippe ab: Sie wird mit einem weißen Tuch aufgefangen. Endlich schlachten sie dann die Opfertiere und bitten die Gottheit, sie möge die Gabe glückbringend machen für diejenigen, denen er sie gab. Sie glauben, ein von diesem Gewächs bereiteter Trank mache ein jedes unfruchtbare Tier fruchtbar; auch sei es ein Hilfsmittel wider alle Gifte. Soviel Verehrung bezeugen oft ganze Völker den gewöhnlichsten Dingen.
Der Keltenfürst vom Glauberg (ca. 500 v. Chr.) trägt keine Mickey-Mouse-Ohren und ist auch keine Außerirdischer. Den Kopf der Statue, die heute im Museum und Forschungszentrum „Keltenwelt am Glauberg“ gezeigt wird, trägt stiliiserte Mistelblätter.
Der Tod des Baldur
Wie bei den Kelten, kommt auch bei den Germanen der Mistel eine besondere Bedeutung zu, wie in der jüngeren Edda überliefert ist. In der dort verfassten Baldursage wird die Mistel zur tödlichen Waffe. Baldur ist der Sohn von Odin (Wotan) und Frigg, er ist der Gott des Lichts, der Sonne und der Fruchtbarkeit. Baldur wird bei einem Waffenspiel der Asen durch eine List Lokis getötet. Vorangegangen waren schlimme Träume, die seine Mutter Frigg mit einem nahenden Unheil deutete. Frigg nahm von allen Elementen, Pflanzen und Tieren den Eid ab, Baldur nichts zuleide zu tun. Nur die Mistel hatte sie nicht mit einbezogen, weil ihr diese Pflanze zu jung und zu schwach erschien. Loki reißt einen Mistelzweig ab und mischt einen daraus gefertigten Pfeil unter die Geschosse des blinden Hödr, mit dem dieser auf Lokis Anweisung in Baldurs Richtung zielt.
Durch Lokis Tat wird der Untergang alles Guten und Gerechten auf der Erde besiegelt und die Götterdämmerung eingeleitet. Diese unheilvolle Rolle der Mistel beim Tode Baldurs ist vielschichtig deutbar und kann auch in Zeiten der Corona-Pandemie auf verschiedene Weise interpretiert werden. Denn der Untergang der bekannten Welt hat auch etwas Tröstliches: Aus der Asche des Weltenbrandes erstrahlt ein neuer Lichtgott“ „Böses wird besser, Balder kehrt heim.“
Bei der Baldur-Sage wies Rudolf Steiner darauf hin, dass Hödr die „Gegenüber der geistigen Welt blindgewordene Macht“ repräsentiert, die den Lichtgott Baldur töten konnte. In der darauf einsetzenden Götterdämmerung erlischt die alte Seherkraft (Hellsichtigkeit), um danach zu einer neuen, höheren Bewusstseinsentwicklung zu führen und auch zu einer höheren Bewusstseinsstufe zu führen.
So ergibt sich auch eine Verbindung zwischen der alles heilenden Mistel der Kelten und der schon 1908 von Steiner geäußerten Qualität der Mistel als Heilmittel gegen Tumore und Krebs. Heute gibt es zahlreiche Präparate und Therapien, die auf den Inhaltsstoffen der Mistel beruhen. „Die Misteln seind der eigenschafft / das sie allerley geschwulst zertheilen / erweichen / und herausser ziehen ...“ heißt es in einem Rezeptbuch aus dem 18. Jahrhundert. Auch in der Homöopathie findet die Mistel Verwendung, wo sie vor allem auf das vegetative Nervensystem einen ausgleichenden Effekt haben soll. Zu medizinischen Fragen sollte natürlich ein Arzt befragt werden.
Baldur, Belenos und Baal
Bei den Kelten nimmt Belenos die Rolle des strahlende und glänzenden Lichtgottes ein. Belenos steht in Zusammenhang mit dem Beltaine-Fest (Feuer des Bel) am 1. Mai. Es gibt zahlreiche Bel-Orte und bei den Christen ist der Heilige Michael, der Erzengel des Lichts, nicht zufällig an seine Seite getreten. Der Sonnenkult reicht weit zurück. Möglicherweise haben die indoeuropäischen Kelten und Germanen diesen Kult von den älteren Megalith-Kulturen übernommen, die sie überrannt haben.
Warum muss eigentlich der Sonnenheld ein Mann sein? In der Siegfried-Sage befreit der Held die von einer flammenden Lohe umschlossene Wallküre. Diese Flammen-Festung könnte auch als Sonne und die Wallküre als Sonnengöttin ansehen. Immerhin sagen wir ja auch „die Sonne“ und „der Mond“, anders als in den romanischen Sprachen. Siegfried wäre dann ein „Mond-Mann“, der sein Licht und seine Lebenskraft von der Sonne erhält.
In der Edda wird Baldur (oder Balder) als Lichtgott bezeichnet: „Ein zweiter Sohn Odins, von dem nur Gutes zu erzählen ist. Er ist der Beste und alle rühmen ihn. Er ist von Gestalt so schön und hell, dass von ihm ein Leuchten ausgeht ... Er ist der klügste Ase, der redegewandteste und am huldvollsten.“
Der Typus des Baldur findet sein Pendant im ägyptischen Osiris. Von seinem Bruder Seth getötet und zerstückelt, wird Osiris von seiner Gattin Isis zusammengesetzt und für einen Moment zum Leben wieder erweckt. Isis bringt Horus zur Welt, der später seinen Vater Osiris rächen wird. Osiris wird nun zum Herr der Unterwelt und der Sohn Horus ist der lichtvolle Himmelssohn. Im Babylonischen wurde dieser Mythos abgewandelt: Aus Isis wurde Balaat und der dortige Osiris erhielt den Beinamen Belus, was „Herr“ bedeutet. Im Phönizischen ist er der Baal der Fruchtbarkeitsgott, den die Israeliten als Belzebub verspotteten. Eine weitere Version findet sich im Mythos von Adonis, der ebenfalls getötet und in die Unterwelt gegangen ist. Aus Trauer um den Geliebten lässt Venus aus seinem Blut eine Blume sprießen: das Adnonis-Röschen. Diese Art von Legenden werden zumeist als Vegetations- und Fruchtbarkeitssagen bezeichnet, die symbolhaft das Auf- und ab der Jahreszeiten beschreibt. Auch eine christliche Umdeutung des Baldur-Mythos liegt mit Maria und dem Jesuskind auf der Hand: Christus ist hier der Erlöser.
Der dahinter stehende Ur-Mythos handelt von der Reise der Sonne im Jahreslauf. In den Wintermonaten liegt die Natur brach da, stirbt sozusagen. Je nördlicher auf der Erde, desto drastischer erscheint der Verlust der Sonnenstunden im Winter zu sein. Spätestens am kürzesten Tag des Jahres schien die Sonne gefangen zu sein und es brauchte einen Held, der sie befreite. Dieses „Sonnengefängnis“ kann mit dem Bild des Labyrinthes beschrieben werden. Der kleinste Bogen im Lauf des Labyrinthes beschreibt die Wintersonnenwende am 21. Dezember. Der sich windende Weg ins Zentrum der “Trojaburg“ beschreibt den Lauf der Sonne im Jahr. Der Name „Troja“ hängt mit sowohl mit „trojen“ =„sich wenden“, „drehen“, als auch mit „Druja“ (Drachen) zusammen. Das griechische Wort Labrys heißt „Doppelaxt“. Dieses Beil (oder Axt) wurde zum Symbol des Sonnenbefreiers. Oft kommt der Held auf dem Pferd daher, um die Sonnen-Jungfrau zu erlösen – im Fall des Trojanischen Krieges die schöne Helena. In Erinnerung an den Lichtbringer-Held wird beim keltischen Beltaine-Fest in den Mai getanzt (siehe oben).
Der König ist tot, lang lebe der König
Um den Charakter dieser geweihten Nächte zu verstehen, wollen wir noch einmal zurückblicken: Im Oktober hatten sich Tag und Nacht noch die Waage gehalten. Der November ist für Mensch und Natur der Monat des Todes - und der Skorpion mit seinem Giftstachel das passende (Sternen)-Bild dazu. Der Dezember steht zunächst im Zeichen des Schützen. Baldur, Odins Sohn, ist durch den tückischen Verrat Lokis vom blinden Wintergott Hödur getötet worden, mit einem Pfeil des immergrünen Mistelzweigs (siehe unten). Schneewittchen liegt vergiftet im gläsernen Sarg; Siegfried wurde meuchels von hinten mit dem Speer Hagens getötet. Persophone wird von Hades in die Unterwelt entführt. Und auch wir sehen die "gestorbene" Sonne bleich und matt am Himmel, wenn überhaupt. Nach dem Sonnen-Stillstand am 21. Dezember, kommt erst am 24. Dezember scheinbar wieder Bewegung in den Lauf der Sonne. Das ist die Geburt des Sonnenkindes und wir feiern Weihnachten. Auf dem „tiefsten“ Punkt des Jahres wendet sich die Sonnenbahn wieder, die Tage werden länger, zunächst unmerklich - doch unaufhaltsam: wie der Steinbock, der in der Felswand den Berg erklimmt.
Wie im Sommer, braucht es nach dem Sonnenstillstand (Solstice) drei Tage bevor sich die Bewegung mit den bloßen Augen feststellen lässt. Solange sieht es aus, als ob die Sonne still steht: Solstice eben. Gibt man im Winter auf den 21. Dezember drei Tage drauf ist Heiligabend, das Lichtkind wird geboren, die Tage werden ab dem 25.12. wieder länger. Genau gegenüber im Jahreskreis am 24. Juni ist Johannestag, an dem überall die Sonnenwendfeuer entzündet werden. Es ist auch die Hohe Zeit des Jahres, in der die Menschen früher Hochzeit gefeiert haben.
Im Jahreskreis begegnen wir den göttlichen Prinzipien des Lebens und des Todes auf Schritt und Tritt.
Unsere Mythen sind bildhafter Ausdruck der natürlichen Prozesse. Wenn das Leben im November zu Grabe getragen wurde, liegt es jetzt reglos da: Je tiefer wir hier abgestiegen sind, desto mehr strebt unser Geist dem Himmlischen entgegen. Freudig erwarten wir die Geburt des neuen Lichtkindes. Advent heißt "Er kommt": Der König ist tot, lang lebe der König.
Mit dem Januar melden sich die Lebenskräfte aus der Erde zurück. Wie die Bärin, die in der dunklen Winterhöhle ihre Jungen zur Welt bring: blind und winzig klein. Im März verlässt sie den Bau mit den dann schon gewachsenen Jungen an ihrer Seite. Astrologisch gesehen beginnt erst dann, mit dem Widder, das neue Jahr.
Die Zeit des dunklen Winters blenden viele aus. So wenig liebevoll wie wir heute oft die Kinder in den Kliniken zur Welt bringen, so wenig respektvoll gehen wir mit den Alten um. Doch ohne das hohe Alter ist der Lebenskreis nicht rund. Ohne die Vollendung macht der Kreislauf des Lebens und Sterbens keinen Sinn. Deshalb sollten wir uns auch nach jedem Projekt die Zeit nehmen, auf das zurückzublicken, was wir erschaffen haben - bevor wir gleich wieder zum nächsten Ereignis eilen.
Warten auf das Lichtkind:
Skorpion und Schütze bringen das Jahr zu Fall
Im Jahreslauf geht es mit der Tageslänge nun rasant bergab: Gerade hatten sich Tag und Nacht noch die Waage gehalten. Im Sternbild Skorpion steckt der Sonne nun buchstäblich der Giftstachel im Fleisch. Der Monat November ist nicht nur der Monat der Toten und des Ahnengedenkens. Auch das Sonnenjahr neigt sich dem Ende entgegen, der eigentliche Todesstoß kommt Ende November, wenn der “Schütze” seinen Pfeil aus dem Köcher holt und abschießt. Am 21. Dezember erreicht die Sonne dann ihren Tiefststand. Himmelsgott Wotan ist nun alt und müde geworden ist. Sein Sohn Baldur wird vom blinden Hödur mit dem Mistelzweig erschossen, Wotan-Widersacher Loki hat ihn dazu angestachelt. Baldur steht für die Sonne, und mit der Sonne stirbt auch das Leben. Doch schon gleich wird das neue Sonnenkind (zu Weihnachten) geboren. Der Lichtblick, auf den wir alle warten. Freundschaft mit dem Tod
Jeden Tag neu leben - ohne Angst
Die helle Jahreszeit endet, die Sonne wird schwächer und kalt. Menschen und Tiere versammeln sich in Haus und Scheune. Diese Zeit des Rückzugs ist der Abschluss eines Jahreszyklus. Und markiert bereits den Beginn eines neuen Zyklus. Altes stirbt, damit etwas Neues geboren werden kann. Zeremonien und Meditationen in Stille und Reflexion sind bestimmend für diese Zeit. Die Praxis der radikalen Vergebung heilt unsere Wunden und Muster. Wenn wir uns von der Vergangenheit lösen, erkennen wir die Hand, die uns aus der Zukunft entgegengestreckt wird. Dabei sollten wir nichts aufschieben. Zwischen Leben und Tod liegt oft nur ein Flügelschlag. Dieser Rundbrief zum 1. November ist meinem Freund Edmund gewidmet. „Eddie“ hat vor wenigen Tagen seinen Körper verlassen. Ich war die letzten Stunden mit seiner Familie an seiner Seite. Ein großes Geschenk. Er ist in Frieden und ohne Schmerzen gegangen. Spätestens im Sommer war ihm klar, dass dies der Weg ist, den er gehen wird. So war es ein Geschenk für ihn und seine Familie, dass er im Kreise seiner Lieben im eigenen Haus gehen konnte - ohne Schmerzen und ohne Medikamente. Auch darin wird er Vorbild für mich sein. Ich habe ein weiteres Mal gesehen: Der Tod ist nicht mein Feind; er lehrt mich jeden Tag neu zu leben.
Der nach oben zeigende Pfeil der Rune Tiwaz steht für das Leben und den Tod. Zurück zum Skorpion, der dem Leben mit seinem Giftstachel den Garaus macht. Das Wasser zieht sich aus den Pflanzen, zurück bleiben verwelkte Blätter und abgestorbene Pflanzenstengel. Doch es bleibt ein kleiner Hoffnungsschimmer: Dem Stirb folgt das Werden. Im ewigen Kreislauf gibt es auf Dauer keinen körperlichen Tod, geistigen schon gar nicht. Doch bis zum neuen Frühling dauert es noch. Es geht sogar noch tiefer hinunter – Am Ende des Sternbildes Schütze erreicht der Sonnenstand am 21.12. den Tiefststand des Jahres. Wir haben schon den Himmelsgott Wotan gesehen, der nun alt und müde geworden ist. Sein Sohn Baldur wird vom blinden Hödur mit dem Mistelzweig erschossen, Wotan-Widersacher Loki hat ihn dazu angestachelt. Baldur steht für die Sonne, und mit der Sonne stirbt auch das Leben. Doch schon gleich wird das neue Sonnenkind (zu Weihnachten) geboren. Der Lichtblick, auf den wir alle warten.
Für den Anthroposophen Hans Sterneder (1889 - 1981) steht der Speer (oder das Schwert) für die Willenskraft. Es liegt an jedem von uns, welchen Weg er gehen will. Auch der heilige Gral kommt hier ins Spiel. In dieser Schale wurde der christlichen Legende nach das Blut des getöteten Jesus aufgefangen. Welches Gefäß könnte dieses kostbare Wasser des Lebens halten? Für mich kann hier nur eins gemeint sein: Das menschliche Herz ist das heiligste Gefäß und gefüllt wird es mit Liebe.